Beratende, die von Termin zu Termin hetzen, vielleicht auch noch einen Blick auf das Handy werfen während die ratsuchende Person Platz nimmt, sind mit ihrer Aufmerksamkeit irgendwo, nur nicht bei dem einen hilfesuchenden Menschen.
Ich plane für ein Gespräch mit Menschen in krisenhaften Lebenslagen genügend Zeit ein, und teile dies den Ratsuchenden schon bei der Terminvereinbarung mit. Würde ich z. B. nach 50 Minuten sagen, „die Zeit ist leider schon vorbei, ich erwarte noch jemand anderen“, würde dies dem individuellen Bedürfnis der Betroffenen nicht gerecht werden. Jedoch dauert eine Sitzung in der Regel auch nicht länger als 2 Stunden, weil dies für die Ratsuchenden ansonsten zu anstrengend wäre. Genügend Zeit zu haben ist in existenziellen Lebenslagen not-wendend.
Die kaum auszuhaltende Ungewissheit, ob der histologische Befund positiv oder negativ ausfällt, die Verzweiflung darüber, den geliebten Menschen im Krankenhaus wegen der strengen Hygienevorschriften während der Coronapandemie nur begrenzte Zeit besuchen zu dürfen, … all das will zunächst ohne Zeitdruck ausgeführt werden.
So dringend die Problemlösung auch sein mag, ich lade zunächst zum Ankommen ein, ehe wir in die Themen der Ratsuchenden eintauchen: „Lassen sie sich ruhig Zeit um anzukommen. Sie werden sehen, wie wohl ihnen die Ruhe tut, gerade in dieser für sie herausfordernden Lebenslage.“ Gespräche in krisenhaften Lebenslagen weisen eine hohe emotionale Dichte auf, die Betroffenen kommen zumeist aufgewühlt zum Gespräch. Eine angenehme Gesprächsatmosphäre ist daher bedeutsam.
Gerne hole ich eine Tasse warmen Tee oder Kaffee hinzu. Süßes Kleingebäck wird gerne angenommen, weil die Bearbeitung der Themen auch den Körper ermüdet und den Zuckerhaushalt beeinflusst. Im Praxisraum ertönt eine leise Instrumentalmusik mit langsamem Rhythmus. Wer körperlich oder emotional friert, dem reiche ich eine warme Decke.
Es braucht Zeit, um die Themen in ihrer Breite und Komplexität darzulegen. Im Zuge der Narration schildern die Ratsuchenden das Erlebte. Der Akt des Erzählens selbst ist sinnkonstitutiv. Überdies achte ich darauf, wie mir jemand etwas erzählt: spricht die Person in der Ich-Perspektive, oder nimmt sie eine neutrale oder distanzierte Einstellung zum Erzählten ein? Ist die Erzählhaltung überwiegend emotional, übermäßig selbstkritisch und selbstanklagend, spricht die Person sachlich-analytisch, oder kommentiert sie ein Geschehen ironisch oder zynisch? Manche Menschen kommen in einer Erzählung selbst gar nicht spürbar vor, weil sie in der dritten Person über sich sprechen.
Offene Fragen sind erzählgenerierend: „Bitte erzählen sie mir, was sie beschäftigt, was ihnen durch den Sinn geht.“ Oftmals wissen Menschen zunächst gar nicht, wo sie anfangen sollen: „Fangen sie einfach irgendwo an zu erzählen. Wir finden gewiss den Roten Faden, und kommen zu dem Punkt, an dem sie Unterstützung oder Begleitung benötigen.“ Gerne leite ich das Gespräch auch mit diesen Worten ein: „Ich bin jetzt mit meiner ganzen Aufmerksamkeit bei ihnen und höre genau zu.“
Verzichten Sie auf Fachworte, Schachtelsätze und Ausschweifungen. Sprechen Sie Wesentliches in einfachen und kurzen Sätzen an.
Versäumen Sie keine Gelegenheit, um gegenüber einem hilfesuchenden Menschen ihre Wertschätzung auszudrücken. Hierzu bieten sich viele Gelegenheiten an. Sie können wertschätzen, dass eine Person den Mut aufbringt, ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen, oder Verantwortung für ihr Tun oder Unterlassen übernimmt.
Die folgenden Äußerungen bringen Wertschätzung und Empathie zum Ausdruck: „Danke, dass sie mir die Situation so genau schildern“, oder, „die Geduld, die sie ihrer an Demenz erkrankten Mutter gegenüber aufbringen, ist bemerkenswert“, oder: „wenn ich mich in ihre Lage einfühle, wird mir noch mehr bewusst, wie herausfordernd die Situation für sie aktuell ist.“
Anstatt von „Defiziten“ oder „Mängeln“ spreche ich von „Wachstumschancen“ und „Entwicklungspotentialen“.
Das Gefühl zu bekommen, vom Gegenüber verstanden zu werden, ist entlastend: „So genau, wie sie die Situation schildern, kann ich ihre Lage sehr gut nachvollziehen“. Auch affektive Gesten, etwa ein zustimmendes Nicken, transportieren diese Haltungen. Seien Sie beruhigt, mit der Zeit finden Sie gewiss Ihre eigenen Worte und Ausdrucksweisen, und entwickeln Sie den ganz persönlichen Stil. Bleiben Sie ein Original! Kopieren Sie niemanden und lösen Sie sich vom Anspruch der Allwissenheit!
Grundlegend ist zudem die Kompetenz, aktiv zuhören zu können. Diese Gesprächstechnik will geübt werden. Doch was bedeutet es, einem Menschen aktiv zuzuhören? Damit ist ein ganzheitliches Wahrnehmen in einer empathischen und offenen Grundhaltung gemeint. Nichts ist wichtiger, als der Mensch vor mir, mit all dem, was ihn bewegt. Ich versuche, verbale und nonverbale Mitteilungen aufzunehmen. Bedenken Sie, dass auch der Körper mit seiner ganzen Gebärde „spricht“.
Beobachten Sie, an welcher Stelle des Gesprächs jemand in sich zusammenfällt oder förmlich aufersteht, wann die Atmung schneller und oberflächlicher wird, oder sich die Haut am Hals rötet. Manchmal schließe ich während einem Gespräch kurz die Augen, um mich ganz auf das Hören zu konzentrieren, denn beim aktiven Zuhören geht es vor allem darum, sich in die Situation der sprechenden Person zu versetzen.
… zur Erhellung von Ressourcen und Bewältigungskompetenzen:
… zur Lösungsfindung:
Zirkuläre Fragen weiten die persönlichen Sichtweisen:
Auch die imaginative, spirituelle Kraft kann in der psychosozialen Beratung genutzt werden:
Bevor ein Ratschlag erteilt oder eine andere Information gegeben wird, sollte das Gehörte zunächst sinngemäß zusammengefasst in den eigenen Worten wiedergegeben werden. Dadurch können Beratende prüfen, ob alle erwähnten Aspekte ihres Gegenübers richtig verstanden wurden. Überdies wird dadurch der Gesprächsfluss verlangsamt.
Der bewusst herbeigeführten Stille kommt in der psychosozialen Beratung eine große Bedeutung zu. Haben Sie den Mut, Gesprächspausen zuzulassen. Gesprächspausen schützen vor inhaltlicher Überflutung und helfen, dem Gesagten emotional Folge leisten zu können. Obwohl kein Wort gesprochen wird, wird so viel einander mitgeteilt.
Es ist methodisch möglich, über ein Thema zu sprechen, ohne es direkt zu benennen, etwa anhand von bildhaften Metaphern, Fotos. Dieses Vorgehen ist beispielhaft dann hilfreich, wenn es um tabuisierte Gefühle geht, etwa um Ekel, Zorn, Schuld oder Scham. Die Arbeit mit Bildmetaphern bietet sich auch dann an, wenn Menschen einen zerreißenden Trauerschmerz spüren. Hierzu ein Beispiel aus meiner Praxis: Ich fotografierte das Blatt des Frauenmantels, in dem sich Tau gesammelt und zu einem Tropfen gebildet hat. Dieser Tautropfen ruht in diesem Blatt.
Die Aufnahme lädt zum Nachsinnen über die Bedeutung der Trauer ein. Edward unterdrückte seine Tränen, weil er für seine schwerkranke Tochter stark sein wollte. Weinen würde ihn und seine Gattin nur belasten, so seine Ansicht. Wir betrachteten eine Weile die Fotografie mit dem Titel: „Die Träne des Frauenmantels“, und ich richtete an Edward diese Fragen: „Was geht ihnen beim Betrachten der Träne des Frauenmantels durch den Sinn?“, „Welche Bedeutung könnten die Tautröpfchen für die Pflanze haben?“, „Welche Botschaft können sie diesem Foto für ihre momentane Lebenssituation entnehmen?“
In meiner Praxis steht eine Holzfigur mit einer goldenen Kugel in der Hand, mein „Ressourcenengel“. Darin, so meine Assoziation, wartet der aktuell noch nicht sichtbare Ressourcenreichtum darauf, nach und nach gesichtet und entfaltet zu werden. Gewöhnlich greifen Menschen in Krisen auf jene Ressourcen zurück, die sie bereits entwickelt haben, die ihnen vertraut und oftmals gar nicht bewusst sind. Mitunter gilt es, den Ressourcenschatz zu weiten; es gibt körperliche, geistig-spirituelle, soziale, imaginative und künstlerische Ressourcen. Je verzweifelter ein Mensch ist, desto größer lasse ich den Ressourcenengel vor meinem inneren Auge werden, und diese Haltung der Zuversicht, dass sich die aktuelle Not wieder auflösen wird, spürt auch mein Gegenüber.
Abbildung: Ressourcenengel
Abschließend ist es mir noch wichtig zu sagen, dass es ein Zeichen des gegenseitigen Respekts ist, sich für ein Gespräch mit sensiblem Inhalt zu bedanken.
Wöger, S. (2020). Krisenhilfe. Ein Buch für die Psychologische Beratung auf Basis der Logotherapie. Norderstedt: BoD.